Diethelm Blecking - Rainer Kokenbrink

1. Leben und Lernen


Diese Publikation soll mit den zusammengestellten Arbeitsmaterialien, Kommentaren und Projektberichten charakteristische Merkmale und Überlegungen unseres Entwurfes einer fächerübergreifenden (unterrichtlichen) Zusammenarbeit zwischen einem Deutsch-Leistungskurs und einem Geschichts-Grundkurs nachvollziehbar gestalten. Im Vorgriff auf den Schlußgedanken dieses Buches verstehen wir diese kleine Schrift auch als Dokumentation einer für uns oftmals freudigen wie auch betrüblichen Revolte gegen schulische Bedingungen.


Ausführliche didaktische Kommentare oder methodisch raffinierte, auf problemlose, leichte Wiederholung hin angelegte Lehrerhandreichungen zu einzelnen Themenbereichen sind nicht unser Anliegen. Diese Veröffentlichung blendet eher Schlaglichter ein und zeigt Kristallisationspunkte eines kontinuierlichen Gesprächbemühens auf, an denen der didaktisch-methodische und inhaltliche Schwerpunkt unserer Arbeit ablesbar wird. Dem Interesse an unterrichtlichen Kopiervorlagen treten wir hiermit lustvoll entgegen. Vielmehr wollen wir die Bedingungen schulischer Arbeit untersuchen und zeigen - so die Basisannahme -, daß man die Anstalt mit den SchülerInnen bewußt und konsequent verlassen muß, um befriedigend lernen und lehren zu können.


Im folgenden stehen daher Überlegungen zum Lernen, zur Institutionalisierung des Lernens, zum intellektuellen Ansatz dieses Buches und inhaltliche Kommentare zu den einzelnen Projekten im Mittelpunkt.
In der Lehrerausbildung, in fachdidaktischen Veröffentlichungen und allgemeinen pädagogischen Schriften zum Lebensraum Schule zirkulieren zunehmend Überlegungen, die voraussetzen, daß sich ein Mehr an feinmethodischer Raffinesse in der Unterrichtsgestaltung bruchlos in einen quantitativen und qualitativen Zugewinn an Wissen und sozialer Handlungskompetenz der SchülerInnen verlängere. Daß dem offensichtlich nicht so ist, wissen nicht nur wache Unterrichtende, sondern sogar die auf ministerialer Ebene in Angriff genommene Umgestaltung der didaktischen und curricularen Rahmenkonzeption der Sek. II bezeugt hier Einsicht. "Profilarbeit" wird das totgeborene Kind genannt, es erstickt immer wieder an den kreativitätshemmenden und infantilisierenden Formen administrativer Gängelung und Bevormundung sowie an der Verkrustung der Schulstruktur; - von der Unlust und Unfähigkeit der LehrerInnen zur Neuorientierung und selbstbewußten Initiierung neuer Schulformen ganz zu schweigen. Dort, wo die Profilarbeit lebt und gedeiht, sind zumeist bewußt Versuchsräume, Ausnahmesituationen, also Laborbedingungen, geschaffen worden, die nicht so ohne weiteres an anderen Schulen zu installieren sind. Unsere Lust an der Zusammenarbeit und dem Gedankenaustausch war die Triebkraft unserer Arbeit, die fernab institutioneller Vorgaben ihre Formen und Inhalte selbst generierte. Dies erfordert jedoch einen Freiraum, eine Selbständigkeit, die im schulischen Arbeitsalltag eben nicht so selbstverständlich aufrechterhalten werden können.


Unsere Arbeit wird durch zwei Ansprüche getragen und genährt: die Überzeugung, daß die Schule als eine auf Veränderung von Denk- und Lebenshabitus hin zu entwerfende Einrichtung sich jederzeit in ihrer Modellhaftigkeit für das außerschulische Leben transparent machen muß. Die Verfremdung des Schulischen durch die Einbindung von außerschulischen Lernstrukturen und -orten macht das SchülerInnendasein erst beurteilbar und damit selbstbewußt steuerbar.


Zweitens benötigen wir für guten Unterricht wie für die eigene Glaubwürdigkeit das Insistieren auf akademischen Arbeitsstandards. Dazu zählen wir die Orientierung an aktuellen Diskussionen und Fragestellungen ebenso wie das Bemühen um offene, in der Erwachsenenbildung gebräuchliche Kommunikationsformen.
Unsere SchülerInnen verlangen Bildung, nicht bloße Information. Sie wollen begleitet werden in ihrer Weltaneignung und Gründung ihrer Intellektualität durch LehrerInnen, die sich als Fragende präsentieren, durch LehrerInnen, die das Lustvolle, Abenteuerliche und Spannende der theoretischen Reflexion glaubhaft darstellen. SchülerInnen besitzen ein gutes Gespür für die Authentizität der LehrerInnenrolle und Arbeitsqualität, und diese Publikation soll deshalb nicht zuletzt auch von unserer Lust sprechen, uns auf SchülerInnen lebendig einzulassen, d. h. ausschnittweise mit ihnen zu leben.


Als Lehrer arbeiten wir daran, uns überflüssig zu machen. Abhängigkeiten der SchülerInnen in methodischer, inhaltlicher, organisatorischer Hinsicht von uns wollten wir frühzeitig auflösen, denn wir arbeiten für die Zeit nach uns.

1.1. Kultur und Gewalt


Die Gegenstandsbestimmung des Unterrrichts ergab sich aus der Beschäftigung mit der Moderne. Seit der Doppelrevolution (Hans-Ulrich Wehler) im politischen und ökonomisch-technischen Bereich, die den eigentlichen Auftakt zur Moderne bildet, ist das scheinbare Gegensatzpaar "Kultur" und "Gewalt" historisch und literarisch präsent, prägt die Epoche. Dabei wird hier "Kultur" in der doppelten Bedeutung der Hochkultur und der Gesamtheit von Lebensformen begriffen. Kultur und Gewalt sind, das zeigt die Geschichte des langen 19. Jahrhunderts (1789 bis 1914) und des kurzen 20. Jahrhunderts (1914 bis 1989) keine Gegensätze, sondern auf ihre Weise Triebkräfte der Moderne. "Allianzen von Zivilisation und Barbarei" (Jan-Philipp Reemtsma) sind charakteristisch für die moderne Entwicklung.


Bereits im traditionellen Unterricht wurde deutlich, daß seit der Französischen Revolution die Gewalt als Massenphänomen zum Problem von Politik und Gesellschaft wird: Revolutionäre Gewalt und weißer Terror, nationalrevolutionärer Aufbruch gegen imperiale Macht, gewaltsamer integraler und radikaler Nationalismus, der sich gegen Fremde und Minderheiten richtet, der bewaffnete Widerstand von Partisanen in verschiedenen Ländern gegen das NS-System, schließlich die "Ordnung des Terrors" (Wolfgang Sofsky), in der die nationalsozialistische Herrschaft in Europa zur Kenntlichkeit gerann, und die militärische Niederlage des Faschismus. Hier werden Facetten eines Entwicklungsprozesses der Moderne beschrieben und gleichzeitig historische Schlagwörter genannt, mit denen sich heute die Situation in vielen Teilen der Welt kennzeichnen läßt. Nebenbei bemerkt trägt der Prozeß der Industrialisierung selber, der die Moderne technisch und ökonomisch prägt, den Charakter struktureller und konkret gegen Menschen gerichteter Gewalt. Im Begriff der "Kultur des Krieges" (John Keegan) scheint das Zusammengehen zwischen Kultur und Gewalt und der Entwurf menschlichen Lebens im Horizont von Gewalt als historisch und aktuell möglicher Existenzform auf. Die Vereinigung der beiden deutschen Rumpfstaaten 1990 hat Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus als politisch-ideologische Muster mit blutigen und gewalttätigen Konsequenzen auch wieder auf die Agenda der deutschen Innenpolitik gesetzt. Die Verse des Auschwitz-Häftlings Primo Levi ("Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen, es kann geschehen, überall") erschienen vor diesem Hintergrund Lernenden und Lehrenden mehr als aktuell.


Die Spur der Gewalt im Modernisierungsprozeß wird jedoch immer begleitet von einem ständigen Aufklärungsprozeß auf der Folie der Demokratisierung der Kultur. Alphabetisierung und Urbanisierung sind Wegmarken in diesem Vorgang, der in den großen Industrienationen auf der einen Seite Ressourcen für die Entfaltung einer Hochkultur in Literatur, Theater, Musik und Bildender Kunst freisetzte, auf der anderen Seite Mittel für den Ausbau eines flächendeckenden Bildungssystems bereitstellte. Die Menschen, die das "Jahrhundert der Lager" (Zygmunt Baumann) verantworteten, waren im Sinne dieses Bildungssystems "gebildete" Leute. Ausgehend von Max Webers Begriff der Kulturbedeutung rückt damit diese Konfrontation von zivilisierenden Prozessen und Zivilisationsbrüchen ins Visier und wird zum Leitgedanken einer Bildungsarbeit, die auf Aushalten und Veränderung orientieren muß, weil ein simpler Ausweg aus dieser Sackgasse der Moderne nicht in Sicht ist. "Diese Widersprüche zwischen Vernichtung, Mord und Hochkultur auszuhalten und zu vermitteln" (Reinhard Koselleck) ist nicht nur das Ziel akademisch betriebener Geschichtswissenschaft, sondern auch dasjenige schulischer Vermittlung.


Alfred Andersch hat in seiner autobiographischen Erzählung "Der Vater eines Mörders"6 diese Aporie in der Person des Oberstudiendirektors Himmler, Schulleiter des Wittelsbacher Gymnasiums, beschrieben: Großbürger, Katholik, Humanist, Altphilologe, erfahrener Pädagoge und Vater Heinrich Himmlers, des späteren Reichsführers-SS und Nr. 2 der Nazi-Hierarchie. "Schützt Humanismus denn vor gar nichts?" fragt der Autor verzweifelt in seinem Nachwort, in dem er über diesen Mann aus "fein gebildeter" Familie nachdenkt.

Was ist ein gebildeter Mensch denn im eigentlichen Sinne? Hartmut von Hentig hat, angelehnt an Robert Spaemann, den Versuch einer Beschreibung gemacht, die keinen abgeschlossenen Bildungskanon präsentiert, sondern eher Charaktermerkmale enthält und Anderschs Not nicht auflöst, aber erklärt: "Es interessiert ihn, (...) wie die Welt aus anderen Augen aussieht. (...) Er ist in hohem Maße genußfähig. Das Fremde ist ihm eine Bereicherung. (...) Gebildete Menschen haben aneinander Freude". Diese Merkmale treffen eben auf den Oberstudiendirektor Himmler, wie Andersch ihn beschreibt, nicht zu. Sie generieren eine Haltung, die eher inkompatibel mit totalen Institutionen erscheint und Identifikationen mit Wir-Gruppen skeptisch gegenüber steht.

 

Im selben Text hat v. Hentig Hinweise gegeben, die unser pädagogisches Handeln beeinflußt haben und Auskunft darüber erteilen, wie die oben genannten Merkmale des Gebildeten zu erwerben bzw. nicht zu erlangen sind: "Die Merkmale (...) erwirbt man nicht von allein und von ungefähr, aber auch nicht durch systematische Belehrung oder Abrichtung. Sie gehen aus einer kultivierten Umwelt auf den Gebildeten über, aber wiederum nur, wenn und weil dieser so sein will. Er ist das Subjekt des Bildens, nie das Objekt; er bildet sich. Nichts kommt auf einmal, nichts unter Druck, nichts aus zwingendem Grund zustande."


Die Anlage des Bildungsgangs Deutsch/Geschichte, wie wir ihn konzipiert haben, fühlt sich diesem Anspruch verpflichtet. Vor diesem Hintergrund kann sich Bildung und Lernen nur als großes Gespräch über Kulturphänomene, hier über Kultur und Gewalt, organisieren. Wobei im Begriff des Gesprächs das gemeinsame Erleben und Handeln einbezogen ist. Die Lernorte sind in einem Systemzusammenhang, der hinter den Etiketten "Gesamtschule" oder "Haus des Lernens" die hausbackene Abrichtungsstruktur nur mühsam verbirgt, wie oben bereits erwähnt auch außerhalb der Schule anzusiedeln gewesen. Dadurch wurden Begegnungen möglich, die für den Schulzusammenhang ungewöhnlich sind und geeignet waren, die lebensfremde Struktur des institutionellen Rahmens aufzubrechen.


Vieles geschah dann ungeplant. Wer die Orte besucht, wo die Toten sind, kann Überlebenden begegnen, die Erfahrungen bezeugen, die im Benjaminschen Sinne jenen Blitz auslösen, in dessen Schein das Vergangene für einen Moment als Gesicht erkennbar wird. Über diese Erfahrungen wird im folgenden zu berichten sein. Aber im Vorfeld soll noch einmal zum Begriffspaar Bildung und Information Stellung genommen werden, um den geistesgeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Kontext zu erläutern, in dem unser Unterrichtsexperiment angesiedelt ist.

 

1.2. Bildung statt Information

Tochter: Ich habe mal ein Experiment gemacht.Vater: Ja? Tochter: Ich wollte rausfinden, ob ich zwei Gedanken gleichzeitig denken kann. Also dachte ich ,Es ist Sommer´, und ich dachte:" Es ist Winter". Und dann versuchte ich, die beiden Gedanken gleichzeitig zu denken. Vater: Und? Tochter: Aber ich merkte, daß ich nicht zwei Gedanken hatte. Ich hatte nur einen Gedanken darüber, zwei Gedanken zu haben. Vater: Genau das ist es. Du kannst Gedanken nicht vermischen, du kannst sie nur verbinden. Und letzten Endes bedeutet das, daß man sie nicht zählen kann. Denn Zählen ist nichts anderes, als Dinge zu addieren. Und das geht meistens nicht. Tochter: Haben wir denn in Wirklichkeit nur einen großen Gedanken, der aus vielen Verzweigungen besteht - vielen, vielen Verzweigungen?

Günther Bucks Sentenz, daß der Unbelehrbare nicht einer sei, der nichts dazulerne, obwohl er Erfahrungen mache, sondern einer, der keine Erfahrungen mache, obwohl ihm viel passiere2 , erzwingt zumindest für Lehrende ein stetes Nachdenken über den Stellenwert der Erfahrung für Lernprozesse und die sich daran anknüpfenden Überlegungen, was dies für die Lehrtätigkeit bedeuten muß. Im Anschluß an Heideggers Analyse der hermeneutischen Struktur menschlichen Handelns, also der Einsicht, daß alle Dinge vor jeder Thematisierung bereits in Handlungskontexten vorverstanden und erschlossen sind, verstehen wir, daß ein Dazulernen notwendigerweise als Umlernen begriffen werden muß. Die unthematisch fungierenden und Verständnisse ermöglichenden Hin-Sichten auf einen Sachverhalt müssen entdeckt und negiert werden, um so durch eine neue Inblicknahme der Sache auch zu (neuen) Verständnissen zu gelangen.3 "KZ´s kenne ich schon..." und ähnliche, durchaus ernst zu nehmende, Schutzversuche gegen einen zu initiierenden Denkprozeß kennzeichnen häufig eine pädagogische Alltagssituation, in der sich Auseinandersetzungswiderstände artikulieren. Selbst die spannendsten Abenteuer des Geistes täuschen nicht darüber hinweg, daß es außerhalb der standardisierten Weltrepräsentationen in Begriffen auch eine gelebte multidimensionale, affektiv reizvolle und neue Lebenshaltung gibt, die es zu entdecken gilt, um vielleicht die Erfahrung zu machen, daß die Sachverhalte anders sind, als ich sie befürchte, kurz: die Erfahrung eines Umlernens wird gescheut, das Brüchigwerden erprobter und bekannter Lebenskontexte. Hergestellt wurde diese Haltung auch durch eine Beschulungspraxis, die alles nur zum Thema, nie zur Erfahrung bringt. "Wenn Auschwitz und Buchenwald den Menschen nicht verändern konnten, was wird ihn dann wirklich verändern?4   Diese Frage Elie Wiesels pocht zu Recht auf die Notwendigkeit exemplarischer Erfahrungen. Gelernt wird nur aus Erfahrungen und Erfahrungen, aus denen nichts gelernt wurde, sind schlicht keine gewesen. Die Komplexität eines Zur-Welt-Seins läßt sich unterrichtlich nicht simulieren. Das Erfahrungmachen braucht mitunter Mut und Orte, Kontexte, an denen es möglich ist, die SchülerInnen aus ihrer institutionellen Rolle zu befreien. Dies Interesse bildet auch eine Ausnahme, denn andererseits sind geronnene und eindeutig in Zaum gehaltene Rollenmuster auch Garanten einer stabilen Machtverteilung, die vielfach bei der Kaschierung von Inkompetenz und Unsicherheit dem lehrenden Personal behilflich sind. Lernen geht also mitunter bei allen Beteiligten gegen Widerstände; Lernen, Denken wird seltenst als gemeinsames Unternehmen orchestriert, eher als hierachisch eindeutig gegliederte Beschäftigung versucht. In anderen Bildungsinszenierungen lauern Unwägbarkeiten und Risiken, da Lernende sich dann als Erfahrende kennenlernen, da sie merken, daß ihr bisher leitendes und vertrautes Zur-Welt-Sein erschüttert werden könnte. Das Bewußtsein macht eine Erfahrung über sein bisheriges Bewußtsein und überwindet in der Entdeckung der eigenen Historizität die Gültigkeit alter Verständnisse, oder mit der oszillierenden hegelschen Bedeutungstrias formuliert, es hebt sie auf5 . Berücksichtigt man andererseits diese Gangstruktur des Lernens, können Lernende im Lernen zu sich selbst in der Sache gelangen, sie bleiben als Subjekte eines Lernprozesses erhalten. Kognitivistische und behaviouristische Lernmodelle berücksichtigen diesen eigentümlich produktiven Aspekt des Umlernens nicht; in ihnen wird Lernen leider immer noch als bruchlose Integration neuer Informationen in eine invariable Sinn- und Deutungsmatrix fehlinterpretiert.

Mit dem Stichwort Information ist der plakative Gegenbegriff zur Bildung genannt6. Bildung konstituiert sich nach dem bisher Gesagten durch die Selbstbestimmtheit der Lernenden in ihrem Lernprozeß, dadurch daß sie das Lernen überhaupt zu ihrem Lernprozess umformen können. Dazu braucht es Freiheiten, die nicht negativ als Freiheit von, sondern als Freiheiten zu Bildungserlebnissen organisiert werden sollten. Für unsere Weimar-Buchenwald-Fahrt bedeutete dies z.B den weitestgehenden Verzicht auf die übliche Polonaise durch die Goethe-Nietzschehaus-Fürstengruft-Gemäuer. Mit Genugtuung nahmen wir das wachsende Bildungsinteresse der SchülerInnen zur Kenntnis, die allein gelassen sich nun selbst ihren Fragen an die Umgebung widmeten und die einschlägigen Orte aufsuchten. Dies bestätigte sich auf allen weiteren Fahrten. Lernen kann sich gut als Gespräch organisieren, und die besten Gespräche erlebten wir im Park an der Ilm und in Kazimierz. Der deutsche Klassikgedanke der organologischen Weltharmonik z.B. erhielt dort seine Fundierung in bukolischer Idylle und in Erinnerungen an die zurückliegenden Buchenwalderfahrungen. Der scheinbar obszöne Gegensatz wurde dabei von den SchülerInnen verstanden und diskutiert.

Selbstverständlich sind gerade die letzten Ausführungen Beispiele für geglückte Bildungserlebnisse, die unter anderen Bedingungen auch in einen krassen und üblen Grauens- oder Betroffenheitstourismus hätten umschlagen können. Dergleichen gab es vor allem in Buchenwald verschiedentlich zu beobachten: ...ob die technische Installation der Genickschußanlage nicht noch zu verbessern gewesen sei, fragten SchülerInnengruppen an diesem Ort sicherlich ohne bewußte Bosheit oder Provokation im Sinn.

Dieses soziologisch interessante Phänomen der Wahrnehmungsabwehr befestigt, so Wolfgang Sofsky, soziale Grenzen und bewahrt den einzelnen vor Gefühlen der Scham, Schuld und Hilflosigkeit.7 Zudem sei die Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern im Prinzip der Sozialität angelegt, da sie immer auch Abstand, Ausschluss und soziale Grenzen markiere. Aus diesen klugen Bemerkungen wird das freie Denk- und Gesprächsangebot zur didaktischen Pflicht: in verbindlich verordneten Formen müssen Annäherungen an Menschen, Orte, Ideen fehlschlagen; sie fordern geradezu die Ignoranz als Haltung heraus. Deshalb müssen SchülerInnen Freiräume in der Begegnung mit Themen, Ideen und Orten bereitgestellt werden, damit sie ihre eigenen Zugänge finden können, - ob dieser am Stacheldrahtzaun, dem Krematorium oder dem wunderschönen Blick ins Land auf blühende Rapsfelder, dem die Inhaftierterten ausgesetzt waren, gefunden wird, kann keine einstündige Führung verordnen.8 Erziehung kann nicht planmäßig betrieben werden, der Komplexität der Gesellschaft und ihrer immer auch unkontrollierbaren Einflußnahme auf Bildungsprozesse ist mit keiner Didaktik beizukommen.9   Reduziert man Schule auf bloße Steigbügelhalter einer sich rasant transformierenden und immer neue Qualifikationen einfordernden Wirtschaft gibt man Kultur auf. Schule habe zu lehren, was die meisten Menschen später nicht mehr lernen könnten, so postulierte Joachim Ernst Berendt unlängst.10

In diesem Zusammenhang haben sich die Reader als ein geeignetes methodisches Mittel erwiesen, um zwischen der notwendigen Freiheit und der beabsichtigten Lernprogression zu vermitteln; sie zeichneten den Besuchen intellektuelle Horizonte, in denen die konkreten Begegnungen mit Orten und Ideen literarisch vorbereitet waren. So lasen wir z.B. während unseres eintägigen Aufenthaltes in der Gedenkstätte Buchenwald mit den SchülerInnen gemeinsam einzelne Texte (aus Fred Wanders "Der siebte Brunnen, Joschko und seine Brüder") und diskutierten mit ihnen unsere eigenen, zum Großteil noch nicht verarbeiteten, Eindrücke. Auch nach der Reise blieb der Reader Lesebuch, Nachschlagewerk, Erinnerung. Vor allem die sorgfältig ausgewählten Fotografien trugen hierzu bei, da die stark visuell sensibilisierte SchülerInnengeneration häufig über exemplarische Fotos einen nachhaltigen Zugang zu den besuchten Orten findet. Die Textsammlungen lieferten also gedankliche Bezugskoordinaten, die bei hinreichender Berücksichtigung sowohl vor Beliebigkeit und Ignoranz wie vor unreflektierter Betroffenheit schützten. Für diese Publikation haben wir die sonst unveränderten Reader mit umfangreicheren Einleitungen versehen, die die Textauswahl kommentierend genauer die Gedankenhorizonte der Reisen und Gedankenwege umschreiben.

Aber ebenso, - und nun folgen zwei weitere Bedingungen -, fordert gelingende Bildung eine Strukturierungskompetenz von Lehrenden und SchülerInnen ein, d.h. erst eine bewußte11 Gliederungsleistung und Hierachisierung der Informationsflut ermöglicht einen sinnvollen Verstehenszugriff auf die disparaten Erscheinungsformen der Wirklichkeit. Perspektiven auf Phänomene müssen hier angeboten und erprobt werden. Gewalt und Kultur benennt unsere über drei Schuljahre erarbeitete und ausdifferenzierte Interpretationsfolie. Die Leistungsfähigkeit strukturierender, Zusammenhänge betonender Klammerbegriffe hat sich wiederholt daran erwiesen, daß jederzeit der zurückgelegte Denkweg aber auch das noch Abzuarbeitende strukturbildend in den Blick der Gespräche gerückt werden konnte. Gegen das singuläre, vereinzelte und letztlich bedeutungslose Informationsdatum wurde so der Zusammenhang betont. Denn gerade weil man im batesonschen Sinne nur einen Gedanken darüber haben kann, zwei (3,4,5,...) Gedanken aneinanderzureihen, muß Schule und Unterricht Synthesen bilden.

Die offenkundige Dominanz der soziologischen und historischen Begriffsprägung in diesem Zusammenhang suspendiert die Fragestellung der Literaturwissenschaft keineswegs, vielmehr verlagert sie nur den methodischen Zugang zu Texten. Deren Poetizität und Ästhetik als historischen und ideengeschichtlichen Reflex auf den Topos des Ineinanders von Kultur und Gewalt zu lesen, gehört zu den Standards dieser Wissenschaft. Zudem steht auch der Autonomiecharakter der literarischen Kunstwerke immer in hermeneutischen Verstehenszugriffen, die ihrerseits aus dem sozialphilosophisch universellen Paradigma des Gewalt-Kultur-Kontextes erwachsen. Heute ein Gedicht zu lesen, sich einer Kunsterfahrung zu stellen, verlangt, sich jenseits platter Affirmationen, Kitschkonventionen und Banalisierungsversuchen der Überprüfung eigener Weltsicht zu stellen. Weil wir heute die Barbarei im Rücken haben und sie weitertragen mit jedem Schritt, steht in jedem Verstehensversuch auch die Dialektik von Kultur und Gewalt in Frage.

So sind z.B. die Vernunftsemphasen aufklärerischer Literatur wie auch die Menschheitsutopie der Weimarer Klassik gleichermaßen als Befreiungs- und Gründungsversuche von Herrschaft und Gewalt gegen Gottesfürchtigkeit und Irrationalität einerseits, und als Antwort auf die Zerrüttung der menschlichen Kräfteharmonie12 andererseits zu interpretieren.

Es bleibt festzuhalten: die Sondierung des Aspekt- und Informationsgeländes durch das Einziehen einer kontinuierlich sich ausdifferenzierenden Metastruktur über drei Jahre Unterrichtsarbeit hinweg ist nicht nur fachlich möglich, sondern darüberhinaus notwendig, um SchülerInnen ihre Entwicklung transparent zu halten und zu veritablen Ergebnissen in der Sache kommen zu können. Interessanterweise diskutieren SchülerInnen die unterschiedlichen Qualitätsstandards ihres Unterrichts nach ähnlichen Kriterien. Der gute Unterricht ist derjenige, der selbständiges und ergebnisreiches Denken ermöglicht.

Die letzte Bedingung für gelingendes Bilden liegt in der schlichten Erfahrung beschlossen, daß sie sich eher in schultranszendierenden Arbeitsformen, -rhythmen und schulexternen Orten erfahren und vermitteln läßt. Die Einübung universitärer Gesprächs-, Lese-, und Schreibformen13 gelingt schwerlich im 45 Minutentakt auf der Grundlage von meist zweiseitigen Kopien... Gegen die fragmentarische, atomisierte Rezeption von Lehrstoff setzten wir verstärkt auf Begriffs- und Ideenpermanenz14. Kontinuitäten im Denken brauchen dementsprechende organisatorische Ressourcen, die in der Schule selten, und wenn, dann häufig nur nach langwieriger Überzeugungsarbeit, bereitgestellt werden. Zudem gilt es die Schule auch zu verlassen; deshalb haben wir exemplarische Orte für unsere Fragen aufgesucht, haben wir außerschulische Bildungseinrichtungen einbezogen, und schließlich arbeiteten wir konsequent publikationsorientiert.

Die Nacht im Park an der Ilm, die gemeinsame Interpretation der Lagertorinschrift „Jedem das Seine“ in Buchenwald widerstehen dem Vergessen trotziger als viele Geschichts- und Deutschstunden ohne Namen. Die Reiseerlebnisse nach Polen bleiben als legendenumrankte, geglückte Bildungserlebnisse im Gedächtnis, sie bereicherten die eigene Bildungsgeschichte durch die Vorbereitung verschiedener Perspektivenwechsel.

 

Anmerkungen

1 Bateson, Gregory; Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt am Main 1985, S. 58f.

2 Vgl.: Buck, Günther; Lernen und Erfahrung - Epagogik. Zum Begriff der didaktischen Induktion. Darmstadt 1989, S. 15.

3 Aristoteles verweist auf die Gangstruktur allen Lernens im Begriff der ,,Epagogé“, die nichts anderes ist, als die ,,Ausarbeitung des in dem für uns Früheren steckenden an sich Früheren“(Buck, Günther; a.a.O. S. 37). Der entscheidende didaktische Impuls Aristoteles’, daß man zur Gegenstandserkenntnis die Kenntnis der Gegenstandsprinzipien erwerben müsse, wird in der einschlägigen Sekundärliteratur leider kaum aufgegriffen. Vor der Vermittlung eines Lehrstoffes muß also die Vermittlung der jeweiligen Fachgebietslogik stehen, denn erst von der Systematik des fachwissenschaftlichen Selbstverständnisses erhält ein Gegenstand seine logische Bedeutung und Sachstruktur. Vgl.: Aristoteles; Philosophische Schriften. Bd. 6 Physik.1. Buch 184af. Hrsg. und Übers. Zekl, Hans Günter; S. 1f . Hamburg 1995.

4 Semprún, Jorge/Wiesel, Elie; Schweigen ist unmöglich. Frankfurt am Main 1997, S. 27.

5 Aufheben: i.S. bewahren, i.S. außer Gültigkeit setzen, i.S. emporheben, bewußtmachen

6 Bildung meint immer die tiefer strukturiertere und reflektiertere Ebene, in der Informationen erst zu einem bereichernden Wert gelangen. Vgl.: Anmerkung Nr. 13.

7 Vgl.: Sofsky,Wolfgang; Traktat über die Gewalt. Frankfurt am Main 1996, S. 105.

8 Jorge Semprún hat diesen unerträglichen Gegensatz zwischen KZ-Haft und Idyll mehrfach beschrieben. Vgl.: Semprún, Jorge; Was für ein schöner Sonntag. Frankfurt am Main 1981, S. 117-119.

9 Zum Entwurf eines Unterrichtes als Lebenspraxis auch: Negt, Oskar; Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche. Göttingen 1997.

10 Berendt, Joachim Ernst; zitiert nach Badische Zeitung 25.10.97.

11 Es sei daran erinnert, daß es letztlich keine ganz horizontal ausgebreitete Informationsmenge geben kann. Sprache ist nur als taxonomische Struktur denkbar.

12 Vgl.: Friedrich Schiller; Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. 6. Brief. In: Mann, Golo (Hrsg.); F. Schiller, Schriften, Bd. 4, Frankfurt am Main 1966, S. 205. 1

13 Nur auf diese Art und Weise können die Anforderungen an einen wissenschaftspropädeutischen Unterricht eingelöst werden.

14 Aufklärung stellt mehr dar als einen Kernbegriff, der nur für die Dauer einer Unterrichtseinheit gilt. KollegInnen, die insistierendes Fragen und Zweifeln als Rumphilosophieren denunzieren, wissenschaftliche Forschungsarbeit und intensiviertes Interesse als Obsessionen beschimpfen, verlieren damit außerhalb der kleinen Schulwelt jegliche intellektuelle Handlungskompetenz.

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