Pianist Leopold  Kozlowski
Diethelm Blecking
Schpil Klezmer, schpil !
Skizzen vom jüdischen Kulturfestival in Krakau

 

Krakau leuchtet in diesen Tagen im Glanze einer Kulturstadt Europas. Die alte polnische Königsstadt feiert sich selbst und ihre Schönheit zusammen mit zahlreichen Touristen aus aller Welt. Dabei gab es im Trubel der Jazz- und Opernfestivals, Rezitationen, Ausstellungen und Straßentheaterinszenierungen etwas Besonderes, das keine andere Stadt in Europa zu organisieren vermag.

Zum zehnten Mal fand Anfang Juli das jüdische Kulturfestival statt. Eine Veranstaltung, deren Wurzeln noch bis in die volksdemokratische Ära Polens reichen. Denn schon Ende der achtziger Jahre versuchte eine Gruppe von Intellektuellen und Künstlern um Janusz Makuch, durch Ausstellungen und andere Initiativen zur Mobilisierung von Öffentlichkeit an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern, als in der größten Stadt des westlichen Galizien 70.000 Juden lebten. Seit dem 13. Jahrhundert entfaltete sich hier eine reiche, differenzierte jüdische Kultur und später eine jüdische Öffentlichkeit mit entwickeltem Vereinswesen, kritischer Presse und stark fraktionierten politischen Strukturen. Dies alles bevor Polen zum großen Friedhof des europäischen Judentums wurde.

"Es war einmal ein Volk, es war einmal ein Leben"

Die Zurückgewinnung dieser Geschichte für das Bewusstsein der Zeitgenossen war immer das erste Ziel des Festivals, und immer noch gibt es in Krakau nicht nur die "gefrorene Geschichte" der Synagogen, der Friedhöfe, die letzten Reste der Gettomauern in Podgórze, sondern Menschen, welche die Erinnerung verkörpern und mit ihrer Kunst "Geschichte" erzählen als Vergangenheit, die nicht vergehen darf.

Europas letzter Klezmer

Die in Galizien besonders langen und kalten Winterabende eignen sich immer für eine Flucht in die Wärme des Klezmer-Hois im Stadtteil Kazimierz, der einstigen Judenvorstadt. In einem braunen Ledersessel residiert hier weißhaarig und immer für ein Gespräch aufgelegt, Leopold Kozlowski, Europas "letzter" und auch "erster" Klezmer, das hängt ganz von der Perspektive ab. Pan Leopold, wie ihn seine Musikerinnen und Musiker ehrfürchtig freundschaftlich nennen, hieß bis 1945 Pejsech ben Zwi Kleinmann und ist ein direkter Sproß der berühmten Musikerfamilie Brandwein, welche die Geschichte der jüdischen Festmusik in der Zeit zwischen den Weltkriegen prägte.

Das jiddische Wort "Klezmer" ist zusammengesetzt aus den hebräischen Wörtern "klej", Werkzeug und "sem", Lied, bedeutet also eigentlich wörtlich "Musikinstrument", im Jiddischen wird es zu "Musiker" umgedeutet. Die Klezmorim, die Klezmermusiker, begleiteten das gesamte jüdische Leben im aschkenasischen, d.h. im west- und osteuropäischen Judentum: "Kein Begräbnis ohne Gewein, keine Hochzeit ohne Klezmer".

In dieser Tradition steht Leopold Kozlowski, der im deutschen Massenmord an den europäischen Juden seine gesamte Familie verlor, darunter seinen jüngeren Bruder, den Geigenvirtuosen Dolko Kleinmann.

In seinem Leben verknüpft der alte Pianist die Geschichte des galizischen Judentums mit der modernen Entwicklung in Kazimierz. Während des jüdischen Festivals in Krakau kehrte in den schwülen Tagen des Juli die Klezmer-Musik zurück zu ihren Wurzeln und "Maestro" Kozlowski mit seinen Freundinnen und Freunden bot im Theater "Bagatela" eine routinierte Bühnenshow, die niemanden überraschte, der ständiger Gast seiner winterlichen Konzerte im Herzen von Kazimierz war, aber die dennoch große, eindringliche Momente hervorbrachte. Als der Meister am Ende des Konzerts alle Musiker auf die Bühne holte und mit ihnen das wunderbare "schabbes soll seyn, schabbes soll seyn, oif der ganzen welt" intonierte, wurde deutlich, dass in den jiddischen Liedern von Liebe, Tod und Sehnsucht etwas Universales aufscheint, das alle Menschen angeht, "die guten Willens" sind. So wunderbar "naiv" und altertümlich beschreibt dieses Anliegen Tadeusz Jakubowicz, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von Krakau, die z.Zt. wieder an die 300 Seelen zählt.

Dass die Klezmer-Musik längst die tradtionellen Formen ihrer Herkunft überschritten hat, und zum Schrecken der Puristen staunenswerte Symbiosen mit Jazz, Rock und Folk eingegangen ist, dafür zeugten auf dem Festival zahlreiche Konzerte mit internationaler Besetzung.

In den schöpferischen Pausen, welche sich die Tänzerin und Sängerin Nina Stiller aus Krakau gönnte, flogen in ihrer Begleitband die Finger von Joachim Mencel zu einem furiosen Solo über das Pianokeyboard und erhob sich der Saxophonist Maciej Sikala zu einer klassischen Jazzimprovisation, damit nicht nur den Kundigen signalisierend, dass hier Jazzmusiker aus Polens erster Liga als Begleiter fungieren.

Die alten "Nigunim", die klassischen Klezmer-Melodien, bieten vortreffliches Spielmaterial für so manche musikalischen Grenzgänge. Wer das beklagt, sollte erinnern, dass nicht nur heimatlos gewordene Musik, wie die Klezmer-Musik, einer ständigen Weiterentwicklung unterliegt, die im Ergebnis manchmal kaum noch die Herkunft verrät. Der Jazz bietet dafür ein gutes Beispiel und Jazz-Musiker wie Uri Caine und Don Byran aus den USA nutzten das Festival als Forum. Der Sänger, Gitarrist und Madolinespieler Jeff Warschauer, ebenfalls aus den USA, demonstrierte zusammen mit der Geigenspielerin Deborah Strauss, dass sich Klezmer-Themen auch wie Balladen singen lassen. Die internationale Dimension des Festivals und der "Jiddischkeit" unterstrich Bente Kahan aus Oslo mit ihrer Interpretation der Lieder von Mordechaj Gebirtig. Der große jüdische Poet und Sänger wurde 1943 im Krakauer Getto Podgórze von den deutschen Besatzern ermordet. Sein Lied "ss'brennt, briderlech, ss'brennt!" war die Hymne der jüdischen Partisanen in Polen, aber eigentlich ist es der Totengesang auf die jüdische Kultur in Osteuropa, die niemand mehr wiederbeleben kann, weil es die Menschen, die Träger dieser Kultur waren, nicht mehr gibt.

Mädchen im roten Mantel

Die Bilder der Malerin Roma Ligocka erzählen von diesem traurigen Zustand. Die jüdische Hochzeit, die ein immer wiederkehrendes Motiv ihrer Bildererzählungen ist, zeigt im Hintergrund als Schatten die Klezmorim, bereit aufzuspielen für das Fest. Aber die Gäste ähneln eher Gespenstern, wie in An-skis berühmtem jüdischem Drama "Der Dybbuk". Sie sind Gespenster, weil es die Freunde und die Verwandtschaft, die traditionellen Gäste des Hochzeitsfestes nicht mehr gibt. Sie wurden totgeschlagen im Lager Krakau/Plaszów oder vergast und verbrannt im nahen Auschwitz.

Roma Ligocka überlebte die Zeit der Verfolgung in Krakau als kleines Kind in einem Versteck zusammen mit Roman Polanski, der bekanntlich später ein berühmter Mann in Hollywood wurde. Sie ist als das Mädchen im roten Mantel, aus Spielbergs Film "Schindlers Liste" einem großen Publikum bekannt. Ihre Geschichte ist noch nicht erzählt. Die Ausstellung ihrer Bilder am Rynek in Krakau unter dem Titel "Swiadectwo" (Zeugnis) war ein viel zu wenig beachteter Höhepunkt des Festivals.

"Ein bisschen Klezmer"

Gesprächsstoff unter den Künstlern und den Besuchern des Festivals bot in Krakau ein Artikel aus einer gewöhnlich ganz gut informierten Münchner Tageszeitung, in der im Vorfeld des Festivals zu lesen war, die Juden würden im Rahmen des Festveranstaltungen um Krakau 2000 mit "ein bisschen Klezmer-Musik" abgespeist. Dies sorgte allenthalben für Empörung. Denn das Musikprogramm des jüdischen Kulturfestivals ist einmalig auf der Welt. In dieser Qualität und Dichte von traditioneller Klezmer-Musik, über ihre Wurzeln in der Musik der osteuropäischen Zigeuner bis hin zu Fortführungen in Jazz, Rock und Folk kann man die Musik in dieser Breite allenfalls noch in New York hören, sonst gibt es keinen anderen Ort als das Festival in Krakau. Natürlich bietet das Festival in Krakau auch die Bühne für ein großes Treffen von Juden aus aller Welt. Hier lagen sich Menschen in den Armen, die sich ein halbes Jahrhundert nicht gesehen hatten.

"Ein bisschen Klezmer", dieses forsche Statement weiß offensichtlich nichts vom Reichtum der vielen Veranstaltungen des Festivals. So standen in Krakau das klassische jüdische Kino und der jüdische Stummfilm auf dem Programm. Das ukrainische Filmmuseum aus Kiew zeigte Raritäten aus der Geschichte des jüdischen Films und präsentierte eine Ausstellung zu "Jüdischen Filmemachern aus der Ukraine", gewidmet den Opfern von Babi Jar. In jener Schlucht im Norden Kiews ermordete 1941 ein deutsches Polizeibataillon über 30.000 jüdische Menschen. Die Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern aus der Ukraine holt noch einmal jenen einzigartigen jüdischen Internationalismus aus der Zeit vor der Shoa ein, der heute in der Region - und nicht nur dort - so bitter fehlt.

Geredet werden muss auch über die Workshops zum Tanz, zur koscheren Küche, zur Bildenden Kunst, über die jiddische Sprache und natürlich zur Klezmer-Musik, der letztere geleitet natürlich u.a. von Leopold Kozlowski. Im jüdischen Kulturzentrum in der Meiselsa stellte Erwin Schenkelbach seine Fotos aus dem "ewigen Jersusalem" aus, "wo die Zeit still steht". Erwin Schenkelbach im ostgalizischen Drohobycz geboren, der als Knabe noch "Galiziens Kafka", den wundersamen Dichter Bruno Schulz, kennengelernt hat. Erwähnt werden müssen die Vorträge zum chassidischen Gesang, zum Talmud und die überfüllten Veranstaltungen des ehemaligen Knesset-Sprechers Shevach Weiss zu Israel nach den Wahlen und zu den Veränderungen in den polnisch-israelischen Beziehungen nach dem Besuch des Papstes in Israel. Wie überhaupt aktuelle politische Bezüge aus dem Festival nicht ausgeschlossen blieben. So wurde in Krakau für eine Solidaritätsveranstaltung im Warschauer Jüdischen Theater geworben, die sich mit dem Schicksal der kürzlich verurteilten iranischen Juden beschäftigt. Eine Veranstaltung u.a. mit Polens Bob Dylan, dem Songwriter Jacek Kaczmarski. Viel mehr als "ein bisschen Klezmer".

Ulica Szeroka

Auf dem Hauptplatz von Kazimierz, der Ulica Szeroka, fand auch in diesem Jahr das traditionelle Abschlusskonzert des Festivals als Open-Air-Veranstaltung statt. Außer den bereits genannten Künstlern musizierten das galizische Jascha Liebermann Trio, das Zigeunerorchester Taraf de Haidouks aus Rumänien, die Krakau Klezmer Band sowie "Kroke" natürlich aus Krakau. Aus den USA waren Dave Krakauers "Klezmer Madness" und die "Klezmer Conservatoy Band" gekommen. Die große Freiluftveranstaltung litt heftig unter dem Wetterumschwung, der Kälte und Regen nach Südpolen brachte.

Aber bevor der große Regen kam, geschah dann noch ein kleines Wunder auf der Ulica Szeroka. Während sich von der Violine Jascha Liebermanns immer hellere Töne lösten und zum Himmel emporschwebten, fühlte sich irgendjemand bewogen, dort die Wolken beiseite zu schieben, und es erschien über dem Platz ein zarter Regenbogen. Gleichzeitig stieg über der Alten Synagoge ein wunderbarer halber Mond auf. Es war dies der Moment als die Graubärte, die Alten, ihre Arme emporreckten und zu tanzen begannen. Wie von unsichtbaren Schnüren gezogen begannen ihre Füße auf dem holprigen Pflaster der Szeroka zu laufen. Wer immer das inszeniert hat. Es war ein magischer Augenblick in der alten Judenvorstadt.

In den Cafés um den Rynek berichteten am nächsten Morgen übernächtigte Gestalten, dass der Tanz und die Musik bis weit nach Mitternacht dauerten, und die Szeroka zur Arche in der Sintflut von Krakau wurde. Der Schlusspunkt wurde im Klezmer-Hois erst am frühen Morgen gesetzt. Ein Jahr wird die Stadt nun warten müssen, bis es wieder heißt "schpil Klezmer, schpil!" Der Chronist beschwört, dass er - wo auch immer - das Flugzeug nach Krakau/Balice besteigen wird, um den Bus Nr. 152 zum Theater "Bagatela" zu nehmen, ins Zentrum des Jüdischen Kulturfestivals.

(In: Badische Zeitung: 5.8.2000

 
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