Diethelm Blecking

Die Gesichter Gottes. Krakau - Kroke - Kazimierz

Die östlichste Kulturstadt Europas

Foto: Katalog

Der Maszkaron, ein lächelner Dämon, ist das Wahrzeichen des Kulturfestivals. Stellvertretend für viele Polen hofft er auf die Fleischtöpfe der EU.

Karrikatur: Zareba

 

Im "Heiligen Jahr" 2000, das unbeschadet aller trockenen mathematischen Einwände auch von vielen nicht sonderlich religiösen Menschen als erstes Jahr des neuen Milleniums mit besonderen Erwartungen betrachtet wird, hat sich Europa selber mit einer Perlenkette beschenkt. Der alte Kontinent erinnert sich einiger seiner schönsten und interessantesten Städte: Reykjavik, Bergen und Helsinki im Norden, Santiago de Compostela und Brüssel im Westen, im Süden Avignon und Bologna. Den östlichen Bogen der städtischen Perlen schließen Prag und Krakau. In guten und in schlechten Tagen eng verknüpft mit der deutschen Geschichte und der Geschichte des europäischen Judentums.

Krakau, das jiddisch Kroke genannt wird, ist vielleicht die schönste, vielleicht die geheimnisvollste, auf jeden Fall die östlichste Stadt in diesem Projekt der europäischen Kulturstädte im Jahr 2000, was in diesem Fall mehr als nur triviale geographische Bedeutung hat. Hier begegneten sich westliches und östliches Christentum und die ältere Buchreligion des Judentums und koexistierten lange Jahre friedlich im Zeichen der "polnischen Toleranz". Das Krakauer Nationalmuseum erinnerte in diesem Zusammenhang mit einer Ausstellung an die polnischen Armenier, und das jüdische Kulturzentrum in der alten Judenvorstadt Kazimierz begann schon im letzten Jahr mit einer Veranstaltungsreihe, die den Minderheiten in Polen gewidmet ist: neben den Armeniern und Juden Griechen, Weißrussen, Ukrainer und nicht zuletzt die Deutschen. Über 30% der Bevölkerung Polens gehörten vor dem Zweiten Weltkrieg Minderheiten an.

Das Kulturprogramm Krakau 2000 versucht nun in einer sich rasant modernisierenden Stadt noch einmal den Bogen zu schlagen zu der multiethnischen, multikulturellen und spirituellen Tradition der alten Königstadt. Spiritualität gespiegelt in Bildender Kunst, in Theater, Literatur und auch beschworen in der Musik bildet die geistige Klammer und das Motto für über 90 Ausstellungen, Inszenierungen, Konzerte und andere Unternehmungen. Noch einmal wird um den Krakauer Marktplatz, mit dem Ensemble der Tuchhallen und der Marienkirche ein real existierendes Weltwunder, die kulturelle Vielfalt eines östlichen Europas gezeigt, das vor gut 60 Jahren im Strudel eines verrückt gewordenen deutschen Nationalismus mit Weltherrschaftsanspruch versank. Sicherlich nicht damit zu vergleichen die derzeitige Invasion der aktenkoffergerüsteten Handybesitzer, die mit ihrem Gebell in deutsch, englisch, polnisch die Atmosphäre der alten Kaffeehäuser stören. Und doch könnte der allerorten prosperierende Konsumismus das bewirken, was Faschismus und Kommunismus nicht geschafft haben, die Zerstörung und Einebnung der lebenswichtigen kulturellen Differenz. Beklagte Pasolini im Italien der 70er Jahre das Verschwinden der Glühwürmchen, so muss man in Krakau das Aussterben der Milchbars und der Markthallen mit ihren Bergen von Blaubeeren im Sommer und Pilzen im Herbst betrauern. An ihre Stelle treten Fast-Food-Ketten und Supermärkte. Der Streit um den zweiten "Carrefour" bewegt die Menschen in Krakau und gegen die Zerstörung von Wohnquartieren durch Supermärkte und Riesenparkplätze regt sich der erste Widerstand. Um Haaresbreite gelang es, den ersten McDonalds am mittelalterlichen Krakauer Markt zu verhindern.

In dieser spannenden Stimmung, welche die Lage einer Gesellschaft im Übergang beschreibt, haben die Planer von Krakau 2000 ihr Projekt entworfen und optieren sperrig gegen den Zeitgeist für die Erinnerung und die Macht der Tradition. Die jüdisch-christliche Dimension der Spiritualität in der Stadt an der Weichsel steht deshalb im Mittelpunkt des Festivals. "Die Gesichter Gottes" im ethnographischen Museum versammeln wunderbare Stücke der christlichen polnischen Volkskunst und der Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts. Das Archäologische Museum zeigt im Sommer die Ausstellung "Götter des Alten Ägypten", in deren Mittelpunkt die Figur einer jungen Priesterin der Göttin Isis steht. Aus dem makedonischen Skopje stammt eine Ikonenausstellung, die ebenfalls im Sommer eröffnet wird und unter dem Titel "Die Wiege des östlichen Christentums" die Tradition der Region um Krakau aufnimmt. Hier waren byzantinische Liturgie und byzantinische Kunst seit 1000 Jahren präsent und hier in Krakau lebt und arbeitet mit Jerzy Nowosielski der größte zeitgenössische moderne Ikonenmaler. Die Macht der Tradition und des religiösen Brauchtums, dies ist schließlich auch das Thema eines Ausstellungsunternehmens zur jüdischen Kultur in der Alten Synagoge aus dem 15. Jahrhundert, das im Juli beginnt. Die Stadt wuchert mit dem Pfund ihrer mehr als tausendjährigen Geschichte durch die viele Religionen und viele Herrscher gegangen sind und riskiert die Inszenierung von Fremdheit und Verfremdung.

Krakau ist darüber hinaus die einzige Stadt der Welt, die mit Czeslaw Milosz und Wislawa Szymborska zwei Literaturnobelpreisträger aus dem exklusiven Kreis der Lyriker zu ihren Bürgern zählt. Ein willkommener Anlaß, internationale Gäste und polnische Schriftsteller zu drei Gelegenheiten während des Festjahres ins "Internationale Literarische Kaffee eizuladen. Dazu kommt eine überwältigende Theatertradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, aber auch die moderne Bühne geprägt hat. Dem vor gut zehn Jahren im Dezember 1989 gestorbenen Maler und Theatermann Tadeusz Kantor, mit "Wielopole, Wielopole" auch in Deutschland erfolgreich, sind das ganze Jahr über unter dem Titel "Heute ist mein Geburtstag" Ausstellungen u.a. von Robert Wilson gewidmet. Ein anderer großer Maler und Dichter, der wichtigste polnische Künstler der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Stanislaw Wyspianski, wird gleichfalls mit einer Fülle von Theaterinszenierungen, Ausstellungen und Konzerten geehrt und erinnert. Zumindest bei eingefleischten Cineasten im Westen müsste auch dieser Autor die Erinnerung an einen großen Film des berühmten Krakauer Regisseurs Andrzej Wajda wecken. Seine Adaption des Wyspianski-Dramas "Die Hochzeit" war immer wieder in Deutschland zu sehn. Aber auch Wajdas Film ist im Grunde so hermetisch "polnisch" codiert und Teil des Dramas der polnischen Nation, dass außer der Bildpracht und des rasenden Tempos der Inszenierung wenig in der Erinnerung aufgehoben sein dürfte.

Krakau leistet sich im Kulturjahr damit eine nationale Orientierung, die in der Öffentlichkeit nicht ohne Kritik geblieben ist und ohne Zweifel die politischen Mehrheiten in der 800.000 Seelenkommune reflektiert, in der die AWS, das Wahlbündnis Solidarität das Sagen hat.

International wird es allerdings beim Treffen der alternativen Theater im März, den Straßentheaterbegegnung im Juli und beim Festival der "Mysterien und Initiationen" im Oktober. Mit den Tänzen ägyptischer Derwische und indianischer Regenmacher, afroamerikanischen liturgischen Gesängen, keltischen Liedern und der Musik der Lappen überschreiten die Veranstaltungen gewohnte Formen und geistige Bezugsfelder und führen in gänzlich fremde, archaische Erfahrungen von Spiritualität ein.

Die Musik ist ein tragendes Element des Krakauer Festjahres. Von Gregorianischer Musik, führt der Weg zu einer Serie von klassischen Konzerten mit großen Dirigenten (Masur, Penderecki, Harnoncourt, Eschenbach), die Aufführungen von Beethoven bis Mahler im Programm hat. An den ersten beiden Julitagen können die Freunde des Jazz, des Folk und karibischer Musik in den Gärten des Archäologischen Museums bei einem zweitägigen Jazzpicknick von soviel Klassik aufatmen. Bei schönem Wetter könnte diese Freiluftveranstaltung ein ganz großes Ereignis werden.

Vielleicht lassen sich ja für diese Zeit die indianischen Regenmacher überreden, berufsfremd für Sonnenschein und laue Nächte zu sorgen, denn außerhalb des gewohnten Zweijahresrythmus findet dann Anfang Juli als Freiluftveranstaltung auch das 10te Jüdische Kulturfestival statt. Auf der Szerokastrasse, die ja gar keine Straße, sondern der zentrale Platz von Kazimierz, der ehemaligen Judenstadt ist, treffen sich Klezmerbands, der weltberühmte Geiger Jitzak Perlman und Synagogenmusiker aus der ganzen Welt von Moskau über Tel-Aviv bis New York.

Im Mittelpunkt des diesjährigen Festivals stehen jedoch die jiddischen Lieder und Gedichte des großen jüdischen Volkssängers Mordechaj Gebirtig, gesungen und rezitiert von internationalen Künstlern. Gebirtig wurde 1942 im Krakauer Getto Podgórze von den Deutschen auf dem Weg zu den Viehwaggons, die in die Vernichtungslager fuhren, erschossen. Ähnlich wie in Weimar, Kulturhauptstadt Europas im vergangen Jahr, durch das nahegelegene Konzentrationslager Buchenwald, ist in Krakau die gewalttätige Geschichte des 20. Jahrhunderts ständig gegenwärtig. "Eine altehrwürdige deutsche Stadt" hieß Krakau in der NS-Semantik, 65000 Juden wurden während der deutschen Besetzung aus Kazimierz vertrieben und zum größten Teil ermordet. Das Konzentrationslager Plaszów befand sich innerhalb der Stadtgrenzen und auf der polnischen Akropolis, dem Wawel, Krakaus Burg herrschte Hans Frank, Hitlers Statthalter im Generalgouvernement, dem Teil Polens, den sich Deutschland nicht einverleibt hatte. Der Film "Schindlers Liste" wurde hier in Krakau zum Teil an Originalschauplätzen gedreht und erzählt von diesen finsteren Zeiten.

In diesen Tagen des Neuen Jahres strömen die Menschen immer noch in die Krakauer Kinos, um Andrzej Wajdas Film "Pan Tadeusz" zu sehen. Ein Historienfilm nach einem Versepos des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz, das Anfang des 19. Jahrhunderts spielt. Bisher kamen 12 Millionen Besucher. Die Prognosen wagen sich an 20 Millionen, bei einer Einwohnerzahl von 38 Millionen. Wajdas Films benutzt wiederum hermetische polnische Zeichensysteme und eine Symbolik, die nur für den Eingeweihten zu entschlüsseln ist. Ein bisschen schaut der Film damit aus, wie das Kulturfestival Krakau 2000, in dem sich eine Stadt sehr polnisch und sympathisch elitär selbst feiert. Darüber kann und sollte kontrovers diskutiert werden. Aber ganz gewiss gilt auch für diese Orientierung die Erklärung, die Wajda selber für seinen nur scheinbar antiquierten Film gibt: "Wenn wir nach Europa wollen, sollten wir auch wissen, wer unsere Vorfahren waren, wie unsere Vergangenheit aussieht - und sei es nur, um sich ein bisschen von den anderen zu unterscheiden, wenn wir in diesem Europa angekommen sind". Die Inszenierung der Differenz ohne Furcht vor Fremdheit und Missverständnissen ist nicht das Schlechteste, was man von Krakau 2000 erhoffen und erwarten kann.

In den Straßen der Stadt treibt indessen der Maszkaron sein Unwesen. Eine Renaissancefigur aus dem Figurenreservoir der Tuchhallen, ein lächelnder Dämon. Der Maszkaron ist das Maskottchen, die Wappenfigur des Festivals. Der Krakauer Cartoonist Andrzej Zareba hat den Maszkaron zum Comikhelden in einer viel gelesenen Zeitung gemacht. Er setzt damit einen witzigen Kontrapunkt zu einem Kulturjahr, das sonst doch vielleicht etwas zu ernst und zu unironisch daherkäme.

Das vollständige Programm von Krakau 2000 läßt sich im Internet unter http://www.krakow2000.pl abrufen

In: Badische Zeitung, 25.März 2000

 
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